Im Sommersemester 2023 haben Andrea Perfler und Helene Schnitzer an der Uni Innsbruck eine Lehrveranstaltung zum Thema „Kulturinitiativen in Tirol“ gehalten. Unser Anliegen war es, den Student*innen Grundkenntnisse über das Feld der Kulturinitiativen zu vermitteln, ihnen einen Einblick in die Arbeitsweisen und Rahmenbedingungen der freien Kulturarbeit zu geben und sie für kulturpolitische Fragestellungen zu sensibilisieren. Für den Abschluss der LV mussten die Student*innen einen Blogbeitrag über eine Kulturinitiative in Tirol oder ein kulturpolitisches Thema nach Wahl schreiben. Einen Teil der Texte präsentieren wir hier auf der TKI-Webseite.
verfasst von Nadia Anderlan
In der Fremderfahrung, so der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels, “überschreiten wir die Grenzen des Eigenen, ohne anderswo anzukommen.”1 Genau diese Erfahrung greift die Ausstellung GURBETTE KALMAK / BLEIBEN IN DER FREMDE im Taxispalais Kunsthalle Tirol auf. Das Ausstellungsprojekt stellt die Menschen hinter dem Begriff „GastarbeiterInnen“ in den Mittelpunkt. Mit Lyrik, Video, Film, Fotografie und Malerei werden die Geschichten von Personen erzählt, die als Fremde nach Westeuropa kamen, als Fremde wahrgenommen wurden, sich als Fremde erlebten, als Fremde benutzt und zugleich ausgegrenzt wurden und als Fremde geblieben sind.
Die Ausstellung GURBETTE KALMAK / BLEIBEN IN DER FREMDE zeigte vom 18.03.- 18.06.2023 verschiedenste künstlerische Artikulationsformen in Reaktion auf die soziale und politische Situation der ArbeitsmigrantInnen im „Gastarbeiter“-System Westeuropas.2 „Gurbette Kalmak“ ist türkisch und heißt „Bleiben in der Fremde“. Kuratiert wurde die Ausstellung bewusst in Teamarbeit von der Direktorin des Taxispalais Nina Tabassomi und Gürsoy Doğtaş. Letzterer ist selbst Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie. Nur so kann authentisch der Blickwinkel jener zur Sprache kommen, die wie seine Eltern in den 1970er Jahren im Zuge der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland und Österreich kamen.
„Die Ausstellung versucht die Thematik aufzugreifen, indem mit den Betroffenen gesprochen wird anstatt über sie. Die Vielfalt der Stimmen und Argumente erlauben es einem, den eigenen Standpunkt zu überdenken und zu präzisieren – wir lernen also voneinander und miteinander“, erklärt Nina Tabassomi bei meinem Besuch in der Ausstellung.
Mitte der Sechzigerjahre wurden die ersten „GastarbeiterInnen“ über Staatsverträge vor allem mit der Türkei nach Österreich und Deutschland geholt, um die Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu füllen. Geplant war nach dem so genannten Rotationsprinzip, die südosteuropäischen ArbeiterInnen nur saisonal anzustellen und auf jeden Fall wieder zurückzuschicken.3
Ende 1973 setzte die Ölkrise ein. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft in Westeuropa waren verheerend. Die Konjunktur stürzte ab. Die Arbeitslosigkeit stieg innerhalb von zwei Jahren auf mehr als eine Million.4 PolitikerInnen und BürgerInnen wurde bewusst, dass die Zeit des Wirtschaftswunders vorbei war. Aufgrund der Folgen der Energiekrise wurde versucht, die „Gäste“ wieder zurückzuschicken. Aber die GastarbeiterInnen kehrten entgegen dem Plan vielfach nicht mehr nach Hause zurück.5 Damit erfolgte im Sprachgebrauch der deutsch-österreichischen Diskurse ein Übergang von „GastarbeiterIn“ zu „AusländerIn“ und MigrantInnen wurden ungeachtet ihres Status dauerhaft ausgegrenzt und diskriminiert.
Die Gemälde des türkischen Künstlers Hanefi Yeter sind von der Erfahrung unzugehöriger Außenstehender geprägt. Sie geben die Kälte wieder, die ihnen entgegenweht und die Unmöglichkeit, überhaupt Anschluss zu finden.
Die häufig auftretende Fensterscheibe ist eine Metapher für den undurchdringbaren Zugang zur „neuen Welt“, der den ankommenden ArbeitsmigrantInnen verwehrt bleibt.
Im Gemälde „Kinderwünsche“ (Abb. 1) separiert die Fensterscheibe im Freien spielende Einheimische von den trübselig und sehnsüchtig aus dem besagten Fenster blickenden „Anderen“.
Das Gemälde „Abschied“ (Abb. 2) symbolisiert einen Ort in der Schwebe, eine Zugfahrt ernüchternder Hoffnung ohne echte Ankunft.
Bloße Duldung schlägt in ein Extrem der Ignoranz und behördlichen Empathielosigkeit um, bis hin zur gesellschaftlichen Diskriminierung. Yeter bedruckt Porträts von emigrierten Menschen mit Arbeitsverträgen (Abb. 3).
Auf dem 1976 entstandenen Werk „Zurück“ (Abb. 4) sehen wir eine würdevoll dargestellte Frau. Darüber prangt in roten Lettern ihre innerhalb eines Monats zu vollziehende Ausreiseaufforderung.
Wie eng Gastfreundschaft, Fremdheit und Feindschaft beieinander liegen, zeigt sich in der schillernden Bedeutung des griechischen Wortes xenos (dt.: Fremder/Gast). Es scheint so, als würde der von außen kommende Gast das Fremde par excellence verkörpern. Das Lateinische geht noch einen Schritt weiter. Hier gibt es zwei Bezeichnungen für das Wort „Fremder“: Hospes (dt.: Gast/Fremder) ist gleichbedeutend mit dem griechischen Begriff. Darüber hinaus hat die Bezeichnung hostis (dt.: Fremder/Feind) auch die Bedeutung „Feind“ oder „Gegner“. Definitorisch stellt somit das Fremde einen potentiellen Feind dar.6 Was sagt das über unsere Beziehung zum Fremden aus?
Der Gast ist ein Fremder besonderer Art. Er gehört dazu, aber nicht ganz. Eben diese unvollständige Zugehörigkeit kennzeichnet den Status des Gastes. Er hält sich in einem fremden Haus, in einer fremden Stadt, in einem fremden Land auf, ohne wirklich dort zu wohnen. Der Gast wohnt als Fremder auf der Schwelle, er ist weder völlig drinnen noch völlig draußen. Der deutsche Soziologe Georg Simmel definiert den Gast als jemanden, „der heute kommt und morgen bleibt“7 und beschreibt damit sehr treffend die Situation der GastarbeiterInnen
Der 90-minütige Spielfilm des Iraners Sohrab Shahid Saless mit dem Titel „In der Fremde/Dar Ghorbat“ (Abb. 5) vermittelt bereits nach kurzer Zeit die monotone Arbeitswelt der GastarbeiterInnen. Mit langen Szenen und nur vereinzelten Schnitten präsentiert er einen Wechsel zwischen kühler Arbeitsatmosphäre und harmonischer Wohngemeinschaft. Bis auf den Hauptdarsteller sind alle Rollen von LaiendarstellerInnen besetzt.
Bleiben in der Fremde ist das erste Kapitel einer Ausstellungstrilogie im Taxispalais, die sich mit Fragen des sozialen Miteinanders auseinandersetzt. Was können künstlerische Sprachen dazu beitragen, die Diskurse um mehrfache Zugehörigkeiten und Vielheit in Westeuropa angemessener zu diskutieren und zu leben?10 Was kann Kunst? Und was soll sie können? Hat sie neben ihren ästhetischen Ansprüchen auch einen gesellschaftlichen Auftrag? Kann sie gar den Gang der Welt ändern? Hat sie das Potenzial, eine treibende Kraft gesellschaftlicher Veränderung zu sein?
Kunst und Kultur können in gesellschaftspolitischen Diskursen gewinnbringend sein, da sie das Potenzial besitzen, ohne den Gebrauch von problematischen Begrifflichkeiten und damit konnotierten Vorurteilen über gesellschaftsrelevante Themen zu reflektieren und aufmerksam zu machen.
„Künstlerische Arbeiten gehen immer über eindeutige Interpretationen hinaus, sie sind vielschichtig, ambivalent und lassen sich eben nicht in fünf Sätzen auf den Punkt bringen. Das ist die große Stärke der Kunst. Sie öffnet unseren Horizont und bringt uns dazu, neue Fragen zu stellen und Dinge anders zu interpretieren, als wir es gewöhnt sind. Kunst fordert uns auf, in einen Austausch zu geraten, unser Denken zu verändern und so neue Verhaltensmuster zu finden. Unsere Aufgabe ist, unser Publikum mittels Kunst zum Diskutieren über unsere Zeit anzuregen. Das sehe ich als unsere Verantwortung“, so Nina Tabassomi.
Im Untergeschoss der Ausstellung begegnete man der Postercollage von der türkischen Fotografin Nil Yalter in der englischen Version „EXILE IS A HARD JOB“ (Abb. 6). Das Fundament dieses ineinander verschachtelten Triptychons besteht aus eintönigen schwarz-weiß Aufnahmen türkischer ArbeitsmigrantInnen. Die Fotos treten mal klar hervor, mal verblassen sie, sind ausgebleicht und schließlich sind nur die Konturen erkennbar. Das Antlitz der Menschen wird ausradiert. Nil Yalter symbolisiert damit die soziale Stellung der Randständigen ohne Ausblick auf Teilhabe und Anerkennung, wahrgenommen als Gesichtslose.
Ähnliches drückt sie in der Arbeit aus dem Jahr 2016 (Abb. 7) aus: In einer Polaroid-Kette mit digitalen Aufnahmen von ausschließlich weiblichen türkischen Immigrantinnen spielt sie wiederum mit Verpixelungen und Verzerrungen der Gesichter.
„Das besondere an der Ausstellung ist die Kombination aus Kunst und Aktivismus, aus Ästhetik und Politik“, meint die Kulturvermittlerin Delia Salzmann.
Die Arbeiten fokussieren sich auf künstlerischen Aktivismus und den Kampf um Arbeits- und BürgerInnenrechte in den 1970er-Jahren und sind zum Großteil in der Zeit des Anwerbestopps 1973 entstanden.8
Diese Geschichte erzählen die KünstlerInnen im Taxispalais nur eben aus ihrer Sicht und ausgedrückt durch die Sprache der Kunst. Wie Semra Ertan in ihrer Lyrik schaffen Cana Bilir-Meier, Sohrab Shahid Saless, Nil Yalter und Hanefi Yeter in Video, Film, Fotografie und Malerei eine eigene Sprache, um den Schmerz abgesprochener Zugehörigkeiten in der Fremde zu erzählen.9 Direktorin und Kuratorin Nina Tabassomi findet es bemerkenswert, dass die künstlerische Sprache wie kein anderes Ausdrucksmittel ein besonderes Können hat, Ungerechtigkeit zu benennen. Bildende Kunst, Theater, Literatur oder Musik sind in der Lage Schmerz und Leid zu verhandeln, ohne die Opfer zum zweiten Mal zum Opfer werden zu lassen.
„Die Künste können solche Erfahrungen teilen oder auch diskutieren, ohne in diese Viktimisierungsfalle zu tappen. Deshalb ist Kunst eine wirklich sehr wichtige Form von Kommunikation“, bemerkt Nina Tabassomi.
Semra Ertan kam mit 15 Jahren zu ihren Eltern nach Kiel, die als ArbeitsmigrantInnen in Deutschland lebten. Sie schrieb in ihren Gedichten aus einer Sensibilität der Mehrsprachigkeit heraus über soziale Ungerechtigkeit und ihren Status als „Ausländerin“, auf den sie immer wieder verwiesen wurde. Ihre Sprache ist ein poetisches Spiel aus Begriffen mit pluralen Bedeutungszuschreibungen wie „unheimlich glücklich“ und „heimlich unglücklich“. In einem sich verschärfenden rechtspopulistischen Klima in der BRD verfasste Semra Ertan mit nur 24 Jahren ihr Gedicht „Mein Name ist Ausländer“. Je bedrohlicher der Rassismus in Deutschland anschwellte, desto mehr erhöhte Ertan ihren aktivistischen Einsatz. Ende Mai 1982 verbrannte sie sich öffentlich in Hamburg und verstarb zwei Tage später.
In Vitrinen ausgestellte Zeitungsberichte, Dokumente und deutsch-türkische Originalmanuskripte aus dem Nachlass legen Zeugnis ab (Abb. 8). Ihre Nichte Cana Bilir-Meier dokumentiert die Geschichte basierend auf den Worten Ertans in einem Videoessay (Abb. 9 u. Abb. 10).
Wenn man sich mit der Frage des sozialen Miteinanders auseinandersetzt, denkt man unweigerlich auch an die Gegenwart, an Debatten über Arbeitskräftemangel und Migration. Erstaunlicherweise wird all das aber aktuell in der Kunsthalle konsequent ausgeklammert. Die Schau bleibt thematisch im Historischen verhaftet. Der Ausstellung scheint auf den ersten Blick der Aktualitätsbezug zu fehlen.
Das Besondere an dieser Ausstellung ist jedoch, dass die historische Komponente der Geschichte der GastarbeiterInnen bis in die Gegenwart nachwirkt. Das Fremde ist einerseits etwas historisch Geladenes, andererseits etwas höchst Aktuelles.
„Die Relevanz dieser Ausstellung besteht darin, einen Diskurs entstehen zu lassen, ein Gespräch anzuregen über ein Thema, das Österreich und ganz Westeuropa bis heute prägt“, fasst Delia Salzmann zusammen.
Nina Tabassomi merkt an, dass sie gemeinsam mit KünstlerInnen der Gegenwart fragen möchte, wie die unterschiedlichen Szenarien von Ausschlüssen, Entwertungen und Ungleichheiten miteinander zusammenhängen. Positionen der jüngeren Vergangenheit wie die Geschichte der GastarbeiterInnen können in diesem Zusammenhang wichtig sein, um einen umfassenderen Blick auf aktuelle Geschehnisse zu erhalten.
Die Fokussierung auf die Wurzeln der Gastarbeiterproblematik und die implizite Thematisierung der heutigen Auswirkungen sind ein gekonnter Schachzug. GURBETTE KALMAK ist der gelungene Auftakt einer Ausstellungtrilogie, die seit dem 7.7.2023 mit der nächsten Ausstellung „die Wissen“ fortgeschrieben wird.
Nadia Anderlan, Studium der Philosophie und des Wahlmoduls „Aktuelle Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Kunst – Kultur – Management“
1 Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt am Main [2002] 2010, S. 243.
2 https://www.taxispalais.art/programm/ausstellungen/gurbette-kalmak; Zugriff: 03.06.2023
3 Wladimir Fischer, „Vom ‚Gastarbeiter‘ zum ‚Ausländer‘ Die Entstehung und Entwicklung des Diskurses über ArbeitsmigrantInnen in Österreich“, 2009.
4 E. Knappe, HJ. Jobelius, „Millionen Arbeitsloser — muß die Arbeit umverteilt werden?“ In: Sozialpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften 1997. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87299-9_9; Zugriff: 03.06.2023
5 Eva Kreisky, „Vom bürokratischen Nutzen ständiger Unsicherheit – Arbeitsmigranten zwischen Anwerbung und Abschiebung“. In: Hannes Wimmer (Hg.): Ausländische Arbeitskräfte in Österreich. Frankfurt am Main-New York 1986, S. 381-432.
6 https://www.information-philosophie.de/?a=1&t=219&n=2&y=1&c=1%7C; Zugriff: 03.06.2023
7 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig [1908] 1992, S. 764
8 https://www.taxispalais.art/programm/ausstellungen/gurbette-kalmak; Zugriff: 03.06.2023
9 https://www.taxispalais.art/programm/ausstellungen/gurbette-kalmak; Zugriff: 03.06.2023
10 https://www.taxispalais.art/programm/ausstellungen/gurbette-kalmak; Zugriff: 03.06.2023
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