Der Kommunikations-, Medien und Kulturwissenschaftler Martin Zierold beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen der Strategie und Organisationsentwicklung angesichts der großen gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart. Aktuell leitet er das Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, an dem er die Zajadacz-Stiftungsprofessur für Innovation durch Digitalisierung innehat.
Auf Einladung des Kulturamts der Stadt Innsbruck, Tiroler Kulturinitiativen, dem Universität Mozarteum Salzburg – Department Musikpädagogik Innsbruck und dem Kulturzentrum p.m.k hielt Zierold kürzlich einen Impulsvortrag zur Frage, mit welchen Herausforderungen der Kulturbetrieb im dritten Corona-Pandemiejahr konfrontiert ist.
Herr Professor Zierold, der Titel Ihres Vortrags lautete: „Lernen aus der Corona-Krise: Zwischen Aufbruch und Erschöpfung“. Welche Lehren sollte der Kulturbetrieb aus der Pandemie ziehen?
Martin Zierold: Das ist so unterschiedlich, das lässt sich nicht pauschal beantworten. Für ein staatlich finanziertes Orchester oder ein Opernhaus gibt es natürlich ganz andere Learnings aus der Pandemie als für die freie Kulturszene. Deshalb braucht es auch ganz unterschiedliche Antworten auf Ihre Frage. Denn die Resilienz ist hier ebenso unterschiedlich wie das Maß an langfristigen Schäden, die durch diese Pandemie angerichtet wurden. Um es konkreter zu machen: Ich kenne kein einziges durch Fördergelder finanziertes Orchester, das im dritten Jahr der Pandemie nicht mehr existiert. Aber ich kenne leider viele Menschen aus der freien Szene, die nach zwei Jahren Pandemie nicht mehr dort tätig sind.
Weil sie es sich finanziell nicht mehr leisten können?
Zierold: Entweder deswegen oder weil sie diese Unsicherheit noch ertragen könnten, sie aber nicht mehr ertragen wollten. Das betrifft auch nicht nur den künstlerischen Bereich, sondern auch andere Bereiche, etwa die Technik. Für diese sogenannten Solo-Selbständigen war Corona nur mehr der allerletzte Tropfen, der dann das Fass zum Überlaufen brachte. Und diese Menschen haben sich andere Tätigkeiten gesucht und werden nicht mehr zurückkehren.
Abgesehen von der Frage der finanziellen Absicherung durch Förderungen, gibt es auch aus Ihrer Sicht andere Erkenntnisse, wer sich in der Pandemie leichter tat und warum?
Zierold: Ja. Da ist zum einen das bereits angesprochene Thema der Resilienz. Eine zentrale Frage lautet, wie widerstandsfähig Kulturinstitutionen sind. Wie sehr sind sie in der Lage, mit unerwarteten Situationen umzugehen? Und was braucht es in den Organisationen, damit sie widerstandsfähiger werden? Aus meiner Sicht gibt es zwei zentrale Learnings für den Kulturbereich aus dieser Pandemie: Erstens hatten Beziehungen einen zentralen Einfluss darauf, wie die Pandemie gemeistert wurde. Kulturinstitutionen, die in lebendigen Beziehungen zu anderen in der Gesellschaft stehen, sind auch besser durch die Krise gekommen. Sie waren in einem besseren Austausch und erhielten dadurch auch mehr Unterstützung von ihren Partnerinnen und Partnern. Wer mit anderen in guten Beziehungen steht, ist auch kooperationsfähiger und kann leichter neue Allianzen eingehen. Das zweite ist aus meiner Sicht das Thema "Lernen" selbst. Organisationen, die es gewohnt sind, zu lernen – und dazu gehört, genau zu beobachten und zu reflektieren, wie Projekte laufen, was gut funktioniert und was weniger gut – kann auf Unsicherheiten viel flexibler und schneller reagieren. Deswegen ist es wichtig, mehr Augenmerk auf Beziehungen und auf Lernen zu setzen. Das sind zwei meiner Key-Learnings aus dieser Pandemie.
Ich hätte noch ein drittes, vielleicht etwas Provokatives, anzubieten: In der Krise war spürbar, dass Kultureinrichtungen von der Politik im Stich gelassen wurden. Sie haben in Ihrem Vortrag eine Frage eingeblendet: „Wenn man die Kindergärten und Schulen offen halten will, warum dann nicht auch die Theater?“ Tatsächlich waren die Theater als erstes zu und sperrten als letztes auf.
Zierold: Für die allererste Phase der Pandemie im Frühjahr 2020 trifft Ihr Eindruck sicherlich zu. Da gab es auch im Kulturbereich das durchaus berechtigte Gefühl, der Beitrag, den Kunst und Kultur für die Gesellschaft leisten können und auch gerne leisten würden, wird von der Politik so gar nicht gesehen. Das war eine ganz, ganz große Enttäuschung. Allerdings gab es dann auch einen ganz lauten Protest. Aber in allen Entscheidungen danach haben die allermeisten Politikerinnen und Politiker sehr viel getan, um diesen Eindruck rückgängig zu machen. Auch finanziell gab es dann viel Unterstützung und es wurden von der Politik neue Formen der Unterstützung gesucht. Die Städte Wien und Hamburg haben dann zum Beispiel eigene Sommerfestivals gestartet, um Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit zu Auftritten zu geben.
Sie haben, wie Sie es selbst nannten, ein „grobschlächtiges Phasenmodell Kunst und Corona“ erstellt und Phase 1, den 1. Lockdown, als alles ganz frisch war, unter den Titel „Existenzangst und Experimentierfreude“ gestellt. Damals gab es ja bei aller Dramatik auch sehr viel Innovation. Es wurden Theaterstücke online gestellt, der Pianist Igor Levit spielte jeden Tag ein Klavierkonzert für seine Twitter-Community, es gab Online-Lesungen und vieles mehr. Das waren alles innovative Bemühungen, die Kultur, die zugesperrt worden war, auf neuen Wegen zu den Menschen zu bringen. Was wird uns davon bleiben?
Zierold: Igor Levits Konzerte auf Twitter und auch die anderen Beispiele, die Sie genannt haben, sind genau das, was ich zuvor mit lebendigen Beziehungen meinte. Man kann durchaus auch digital in lebendiger Beziehung bleiben. Das konnten Kulturschaffende in der Pandemie zeigen. Der Pianist Igor Levit hat es beispielsweise geschafft, sich auf Twitter ein Publikum aufzubauen, das mit ihm in Beziehung ist und das mit ihm in Kontakt bleiben möchte. Von diesen Beziehungen wird auch nach der Krise einiges bleiben, denn wir werden sicher nicht in einen Vor-Pandemie-Status zurückkehren. Und es ist gut so. Gleichzeitig wird aber auch nicht all das, was in den Lockdowns probiert wurde, fortbestehen können, nicht zuletzt aus einem ganz pragmatischen Grund: Man kann nicht mit demselben Personal und denselben finanziellen Möglichkeiten den Normalbetrieb plus all das, was man im Lockdown gemacht hat, fortsetzen.
Was sollte aus Ihrer Sicht bleiben?
Zierold: An ganz vielen Stellen wurden Dinge im Lockdown ausprobiert, von denen es durchaus lohnend ist, sie weiterzuführen. Das betrifft nicht nur die digitalen Innovationen, sondern auch die kulturellen Aktivitäten im öffentlichen Raum bis hin zu Kleinstveranstaltungen wie Eins-zu-Eins-Konzerte, die man buchen konnte und wo ein Künstler zu einem nach Hause kaum und zehn Minuten seine Stücke spielte. Oder auch Innenhof-Konzerte. Diese experimentelleren Formen, aus der Not geboren, sind solche Beispiele. Allerdings reichen jetzt oft die Kapazitäten nicht, um diese Formen neben dem Normalbetrieb am Leben zu erhalten.
Wie soll die Entscheidung getroffen werden, was bleiben darf und was nicht?
Zierold: Hier wäre es wichtig, dass die Institutionen sich Freiräume schaffen, um zu reflektieren, was in den Lockdowns für sie gut funktioniert hat. Danach sollte man sich überlegen, wie man diese Formen in die neue Normalität integrieren kann. Da wird es gut sein, Altes auch einmal sein zu lassen, um diesen neuen Formen einen Platz geben zu können und einen guten Mix zu finden. Denn viele Formate waren zwar eine hilfreiche Krücke in einer schwierigen Zeit. Aber jetzt brauchen wir sie nicht mehr.
Was zum Beispiel?
Zierold: Einfach einen Stream von einer Produktion in einem Theater aufnehmen, für den bloß eine Kamera auf die Bühne gerichtet ist. Das mag zwar funktionieren, wenn alle Theater geschlossen sind. Aber wenn man Theater künftig auch digital machen will, muss man von vornherein für eine digitale Ausstrahlung produzieren. Sonst hat das keine Zukunft. Was ich mich aber schon frage: Wieso hat es eine Pandemie gebraucht, um zum Beispiel bestimmte Archivproduktionen zugänglich zu machen? Da wurde in der Pandemie ein richtiger Schatz gehoben. Der war zuvor nur in Archiven vorhanden, obwohl diese Produktionen irgendwann einmal mit Steuergeld ermöglicht worden sind. Sie sollten uns allen zur Verfügung stehen. Hier fehlen mir Initiativen, das auch über diese Lockdownphase zugänglich zu machen. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die man sich jetzt wirklich Punkt für Punkt ansehen sollte: Was sollten wir uns erhalten und was darf auch gerne wieder verschwinden? Und bei dem, was verdient, zu bleiben, müssen wir uns auch fragen: wie schaffen wir das noch?
Bei der Frage „wie schaffen wir das noch?“ komme ich zurück auf die von Ihnen bereits angesprochene große Erschöpfung, die uns durch die Pandemie begleitet. Wie kommen wir aus der wieder heraus? Braucht es da nicht eine Erholungspause?
Zierold: Jetzt einmal die Pausetaste drücken zu wollen, wäre eine durchaus verlockende Vorstellung. Allerdings bin ich mit Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz sehr skeptisch. Jetzt, wo wieder mehr möglich ist, können Kulturinstitutionen nicht zu kulturpolitischen Menschen, die ihnen das Geld geben, sagen, „wir hatten zwar jetzt zwei Jahre immer wieder zu, aber jetzt brauchen wir einmal eine richtige Pause.“ Auch wenn alle wissen, dass diese extrem stressige Zeit alles andere als eine Pause für Kulturschaffende war.
Also die müden Augen zu und durch?
Zierold: Nein, weil das auch nicht funktionieren wird. Es wäre ein großer Fehler, jetzt so zu tun als gäbe es diese Erschöpfung nicht. Ich habe im Gegenteil eher den Eindruck, dass manche Dinge, die sich in den zwei Jahren Pandemie unter der Oberfläche angesammelt haben, als alle die Zähne zusammenbeißen und funktionieren mussten, erst jetzt aufbrechen. Wie eben oft der Zusammenbruch erst droht, wenn es nach einer überfordernden Zeit endlich wieder ruhiger wird. Genau das ist meine Befürchtung für die nächsten Monate: Je weniger die Pandemie im Kulturbetrieb eine Rolle spielt, desto stärker werden auch die über die vergangenen zwei Jahre unterdrückten Konflikte in den Teams aufbrechen. Weil man diese nicht austrägt, wenn man einander nur digital trifft. Gefährlich wird es aber, wenn dazu noch ein Gefühl aufkommt, dass alles jetzt viel leichter werden muss, weil jetzt ohnehin wieder alles möglich ist. Dann ist die Gefahr von Enttäuschungen sehr hoch. Die nächste Zeit wird nur anders, aber deshalb auch herausfordernd. Weil wir das Gepäck, das wir seit zwei Jahren mit uns herumtragen, jetzt nach und nach auspacken werden. Und erst dann wird uns bewusst werden, was wir da eigentlich so lange mit uns herumschleppen.
Was würden Sie Kulturinstitutionen raten, wie sie mit dieser schwierigen Situation umgehen sollen?
Zierold: Ganz als erstes ist wesentlich, anzuerkennen, dass es diese Erschöpfung gibt. Als nächster Schritt ist es nötig, sich darauf einzustellen, dass in Teamzusammenhängen in nächster Zeit zwei Ebenen zu beachten sind: Die Arbeitsebene und dazu auch eine Aufbereitungsebene. Im besten Fall gibt die Tatsache, dass der Kulturbetrieb wieder anläuft, den Kulturschaffenden neue Energie – eben weil es ein schönes Gefühl ist, dass wieder Publikum in den Saal strömt oder weil wieder Besucherinnen und Besucher in die Ausstellung kommen. Aber bei all dem sollte man weder zu viel Nabelschau betreiben noch blind für all das sein, was noch aufgearbeitet werden muss. Diesen idealen Mix zu finden, wird die Herausforderung der nächsten Monate.
Das klingt ein bisschen nach dem ersten Training nach einer Sportverletzung: Man muss den Muskel wieder aufbauen, aber nicht zu viel, sonst tut man sich gleich wieder weh.
Zierold: Stimmt, das ist ein schönes Bild, auch der Kulturbereich braucht jetzt so eine Reha-Phase. Das kenne ich auch von meiner Hochschule, denn da sind die Probleme jenen der Kultur sehr ähnlich. Wir alle hatten doch in den Lockdowns das schöne Bild, wie glücklich wir einander bei der Rückkehr in die Präsenz in die Arme fallen werden. Jetzt ist es so weit und statt einander zu umarmen, brechen plötzlich Konflikte aus, weil diese eben zwei Jahre nicht wirklich ausgetragen werden konnten. Man spürt plötzlich, wie sehr zwei Jahre ohne physischen Kontakt, wo wir immer nur am Computer über Kacheln miteinander geredet haben, unsere Beziehungen veränderten und wie man miteinander fremdelt. Das muss aber nicht unbedingt negativ sein. Vielmehr sollten wir uns dies bewusst machen und die Beziehungen aktiv neu gestalten. Nur dann hat man als Team die Chance, eine neue, bessere Qualität der Zusammenarbeit zu erreichen. Das ist nicht einfach, aber immerhin haben wir so durch Corona die Chance bekommen, einander neu kennen zu lernen und alte Routinen zu durchbrechen.
Das heißt, der Kulturbereich steht gerade vor einem blind date?
Zierold: Nicht ganz. Aber wir sollten die Situation als Chance sehen, um alte Muster zu vergessen und vieles neu und besser zu gestalten.
Die Veranstaltung und dieser Blogbeitrag wurden durch die Österreichische Gesellschaft für Politische Bildung gefördert.
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