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Zeitgenössisches in der Drechslerei

Zeitgenössisches in der Drechslerei

verfasst von Susanne Gurschler
Beitrag vom 28.03.2023
Ausstellung des Künstlers Friedrich Biedermann 2020
© David Schreyer

Mit der Galerie am Polylog entstand in Wörgl 2012 eine Plattform für zeitgenössische Kunst. Über 60 künstlerische Positionen stellte sie seither zur Diskussion – und festigte ihren Ruf als Kulturort in der Region.

„Bitte Topfpflanzen mitbringen!“ – hieß es am 5. Oktober 2012 in Wörgl. An diesem Tag eröffnete die „Galerie am Polylog“ – mit vollem Namen „Galerie am Polylog.kunst.raum.wörgl“ – ihre erste Ausstellung. Unter dem Titel „pflanzen“ befassten sich Künstler*innen mit den Themen Urban Gardening und Social Gardening. Heimische Positionen wurden mit internationalen in Beziehung gesetzt. So fanden sich Arbeiten der österreichischen Künstler*innen Wilhelm Scherübl und Ruth Kaaserer neben denen des schottischen Duos Dalziel + Scullion sowie der US-amerikanischen Fotografin Margaret Morton. Der regionale Beitrag stammte vom Freigarten Wörgl, einem Urban-Gardening-Projekt mit partizipativem Charakter. Er war im Jahr davor gegründet worden und beackerte eine von der Stadtgemeinde zur Verfügung gestellte Fläche.

Am Eingang der Galerie am Polylog stehen die Namen der bisher ausgestellten Künstler:innen und das Modell des namensgebenden Polylogs. © Susanne Gurschler

Kulturelle Aufwertung

Die Eröffnungsausstellung fungierte auch als programmatische Ansage. Denn die Galerie am Polylog wollte ein Ort der zeitgenössischen Kunst, des Austauschs, der Diskussion am Puls der Zeit sein. Eine bemerkenswerte Kulturinitiative in einer Stadt, die als Verkehrsknotenpunkt für wild wuchernde Einkaufszentren stand, aber wenig Flair, geschweige denn Aufenthaltsqualität bot. Allerdings suchte die Stadtgemeinde einen Imagewechsel, weg vom Shoppingmekka der Region, hin zu einer lebenswerten, auch kulturell anziehenden Stadt. 2010 gönnte sich die „Energiemetropole“ ein Kulturleitbild, gefolgt von eigenen Förderrichtlinien. In diesem Klima entstand die Idee für eine Galerie – die „Galerie am Polylog“.

Galerie am Polylog © KOMMA Wörgl

Besondere Konstellation

Impulsgeber dafür war Luggi Ascher, Leiter des KOMMA. Mit dem KOMMA hatte Wörgl seit 1996 ein multifunktionales Veranstaltungszentrum, dessen Programm – von Theater über Kabarett bis zu Konzerten – weit über die Region hinaus strahlte. Zudem bot es den verschiedenen Vereinen voll ausgestattete Räumlichkeiten für Veranstaltungen.
Zu diesem Anker des sozialen und kulturellen Lebens in Wörgl sollte sich eine kleinere Struktur gesellen, die Luggi Ascher zufällig in einer ehemaligen Drechslerei im Stadtzentrum gefunden hatte. Im Kunsthistoriker und Ausstellungskurator Günther Moschig sowie dem damaligen Kulturreferenten der Stadt, Johannes Puchleitner, fand er Mitstreiter. Das Stadtmarketing unterstützte das Vorhaben. Politisch dauerte der Entscheidungsprozess etwas länger. Schließlich aber segnete der Gemeinderat das Galerie-Projekt ab.
Die Stadtgemeinde mietete die Räumlichkeiten an und sicherte sich einen Platz im Vorstand des eigens gegründeten Kulturvereins. „Diese Konstellation mit einer politischen Vertretung im Vereinsvorstand hat dazu geführt, dass wir seit Gründung keine Förderungen von Seiten des Bundes erhalten“, so Günther Moschig.

Seit der Gründung zeichnet der Kunsthistoriker Günther Moschig für das Ausstellungsprogramm der Galerie verantwortlich. © Susanne Gurschler

Werkstattcharakter

Mit ihrem Werkstattcharakter erwiesen sich die Räumlichkeiten in der Josef-Speckbacher-Straße als ideal für die Grundidee der Galerie, sollte sie doch ein Ort der Diskussion und des Austauschs werden. Als Namensgeber und Wegweiser fungierte die rund neun Meter hohe Edelstahlsäule „Polylog“ in unmittelbarer Nähe der Galerie, eine Medieninstallation des international renommierten deutschen Künstlers Christian Möller, errichtet rund zehn Jahre zuvor.
Das KOMMA übernahm die Verwaltung und Vermietung der Räumlichkeiten. Günther Moschig wurde als Kurator bestellt. Neben drei von ihm programmierten Ausstellungen pro Jahr mit jeweils zwei Monaten Laufzeit sollten Wörgler Vereine, Initiativen und Künstler*innen die Galerie günstig für eigene Aktivitäten mieten können. Die besondere Struktur der Galerie – großes Foyer und weitere kleine Räume – kamen einer vielseitigen Nutzung sehr entgegen.

160 Quadratmeter für Kunst

Insgesamt zog die Premierenausstellung „pflanzen“ fast 400 Menschen in die Galerie am Polylog und zeigte, dass Wörgl nicht nur Potenzial hat, sondern auch Interesse an einer Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst in der Region besteht. Auch medial wurde das neue Projekt sehr gut aufgenommen. „In Wörgl hat sich ein spannender Kunstort aufgetan“, schrieb etwa die Kulturjournalistin Ivona Jelčić in ihrer Besprechung von „pflanzen“ in der Tiroler Tageszeitung.
Bereits im folgenden Jahr gestaltete Moschig mit den Künstler*innen Claudia Hirtl, Christoph Hinterhuber und Pietro Sanguineti, Matthias Bernhard und Ina Hsu ein anspruchsvolles Programm. Die Mischung aus regionalen, österreichischen und internationalen Positionen, arrivierten und Nachwuchskünstler*innen, aus den Sparten Malerei, Skulptur, Performance und neue Medien sollte zu den zentralen Leitlinien der Galerie am Polylog werden. Kombiniert mit Podiumsdiskussionen, Buchpräsentationen und Filmvorführungen etablierte sich die Galerie am Polylog rasch zu einem Hotspot für Zeitgenössisches mit Ausstrahlung weit über die Region hinaus.
„Obwohl unsere Mittel mehr als überschaubar sind und viel ehrenamtliches Engagement dabei ist, konnten wir hochkarätige Künstler*innen nach Wörgl bringen, interessante Perspektiven zeigen. Ich habe nie eine Absage erhalten“, erzählt Moschig.

Detail der Ausstellung des Tiroler Künstlers Christoph Hinterhuber zusammen mit dem deutschen Künstler Pietro Sanguineti 2013. © David Schreyer

Wörgl im Fokus

Zur Akzeptanz trug sicher bei, dass Wörgler Künstler*innen und Vereine die Möglichkeit erhielten, ihre Arbeiten in der Galerie zu präsentieren bzw. eigene Veranstaltungen durchzuführen. Immerhin hatte Wörgl mit dem Kunstverein ARTirol seit 1995 einen umtriebigen Zusammenschluss von Kreativen aus dem Tiroler Unterland – von der Malerei über die Literatur bis zur Schauspielerei.
Auch das Heimatmuseum Wörgl fand in der Galerie am Polylog die nötige Infrastruktur, um themenspezifische Sonderausstellungen durchzuführen. 2014 etwa die vielbeachtete Schau „2 x 2 = 3,99 – vom Rechenschieber zum Elektronikrechner“, die der Geschichte des Rechenschiebers und des Wörgler Unternehmens Aristo (heute Geotec) nachging. Es ist spezialisiert auf die Herstellung von Zeichengeräten und Rechenschiebern, und vertreibt diese von Wörgl aus in ganz Europa.
Auch brisante Themen kamen zur Sprache. 2016 setzte sich ein vom Heimatmuseum in Kooperation mit dem Anne Frank Verein Österreich durchgeführtes Projekt mit der Zeit des Nationalsozialismus in Wörgl auseinander. Die Ausstellung „NS-Zwangsarbeit – das vergessene Lager in Wörgl“ in der Galerie am Polylog wurde ergänzt durch Vorträge, Filme, ein umfangreiches Vermittlungsprogramm sowie Workshops in Schulen.

Zum Fünften

Ihren fünften Geburtstag feierte die Galerie am Polylog 2017 mit der Ausstellungseröffnung von „Undress“ der Künstlerinnen Anna Baumgart und Margret Wibmer. Unter den Festrednern war Benedikt Erhard, stellvertretender Vorstand der Abteilung Kultur des Landes Tirol, der feststellte, aus Innsbrucker Sicht würde man nicht davon ausgehen, „dass hier zeitgenössische Kunst auf höchstem Niveau präsentiert wird – und ganz genau das passiert hier“. Die Bilanz fiel erfreulich aus, 16 Ausstellungen hatte der Verein seit der Gründung gestemmt, dazu kamen mehr als 30 Veranstaltungen organisiert von Wörgler Vereinen, Institutionen und Künstler*innen.
Auch die folgenden Jahre blieb die Galerie am Polylog den Grundlinien ihrer Programmatik treu, in der Vitrine im Eingangsbereich der Galerie finden sich die Namen jener Künstler*innen, die seit 2012 präsentiert wurden. Sie reicht von Oshin Albrecht über Paul Albert Leitner bis Heidrun Sandbichler, von Karin Schmuck über Robert Gfader bis Wilfried Kirschl, von Luca Coser über Sevda Chkoutova bis Yvonne Gienal. Bald wird die Liste um Anabel Scheffold erweitert, weitere Namen werden folgen – so die neue Wörgler Stadtregierung ein Einsehen hat.

International ausgerichtet: 2021 präsentierte die Galerie am Polylog Arbeiten der bulgarischen Zeichnerin Sevda Chkoutova. © David Schreyer

Ruckzuck weg

Denn die läutete wenige Wochen nach dem 10. Geburtstag, den die Galerie am Polylog im Oktober 2022 feierte, für alle Beteiligten völlig überraschend deren Ende ein. Ohne den Verein zu informieren, geschweige denn das Gespräch zu suchen, kündigte die Stadt den Mietvertrag für die Galerie. In einer „Nacht- und Nebelaktion“ ließ sie zudem die Polylog-Stele von Christian Möller entfernen.
Dieses Vorgehen führte nicht nur zu einer breiten medialen Reaktion. Es veranlasste die TKI wie die Tiroler Künstler:innenschaft und einige Künstler*innen zu einer öffentlichen Stellungnahme. Ende Februar 2023 fand endlich ein Gespräch zwischen Bürgermeister Michael Riedhart und Günther Moschig über die Zukunft der Galerie am Polylog statt – ob und wie es weitergeht, wird sich zeigen.
Die jüngsten Ereignisse haben im Vereinsvorstand jedenfalls die Absicht bestärkt, seine Aktivitäten von der Politik zu entkoppeln. „Um nicht Opfer politischen Kräftemessens zu werden, wollen wir längerfristig einen von der Politik unabhängigen Vorstand etablieren“, so Moschig. Nicht zuletzt hätte das einen weiteren positiven Effekt: Der Verein könnte endlich um Förderungen beim Bund ansuchen.
Dass die Galerie am Polylog eine fixe Größe in der Ausstellungs- und Galerienlandschaft Tirols ist, eine gute Adresse für zeitgenössische Kunst, hat sie nämlich längst bewiesen.

Über die Autorin
Susanne Gurschler, Studium der Germanistik und gewählter Fächer in Innsbruck, freie Journalistin und Autorin. Schreibt Beiträge und Reportagen für Magazine, Sammelbände, Jahrbücher und Kataloge und verfasst Sachbücher. Zuletzt erschienen: „Handwerk in Tirol. Wo Können auf Leidenschaft trifft“, „Zwei Bühnen, acht Mal Kultur”, Reihe Kulturorte Nr. 3 (beide Tyrolia Verlag) und „111 Orte in Osttirol, die man gesehen haben muss“ (Emons Verlag).
susannegurschler.at
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