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Der Mensch, ein Tier

Der Mensch, ein Tier

verfasst von Helene Schnitzer
Beitrag vom 30.06.2021
Thomas Medicus in seiner Werkstatt
© Helene Schnitzer

Ich treffe Thomas Medicus zum Interview in seinem Atelier in einem Hinterhof im Innsbrucker Stadtteil Dreiheiligen. Wir betreten eine frisch renovierte, helle und geräumige Werkstatt. Alles wirkt sauber und geordnet. „Hier wird präzise gearbeitet“, denke ich. Der Raum ist Atelier und Werkstatt zugleich, wie auch Thomas Medicus sowohl freischaffender Künstler als auch Glasermeister ist. Wenig überraschend, dass der Werkstoff Glas auch in seiner künstlerischen Arbeit eine wichtige Rolle spielt. Medicus ist vor allem für seine anamorphen Glasskulpturen bekannt – Glaskuben, die Bilder beim Umrunden der Skulptur in Bildfetzen auflösen und wieder zusammensetzen.

Auch die aktuell entstehende Arbeit Human/Animal Binary ist so aufgebaut. Sie besteht aus 144 Glasstreifen, die in einem würfelförmigen Raum ineinandergreifend angeordnet sind und vier fragmentierte Illustrationen von bedrohten heimischen Wildtieren zeigen: von Biene, Bachforelle, Eisvogel und Luchs.

Skizzen von Human/Animal Binary © Thomas Medicus

Das ungekürzte Interview zum Hören

Im Interview spricht Thomas Medicus über die Hintergründe der Kunstinstallation Human/Animal Binary, in der er die Biodiversitäts- und Klimakrise und das ambivalente Verhältnis von Mensch und Natur thematisiert.

Im Gespräch mit Thomas Medicus

Helene Schnitzer: Du hast dein aktuelles Projekt bei TKI open 21 eingereicht. Der Call hat die Frage nach dem Umgang mit den aktuellen Krisen gestellt – mit der Coronakrise und damit zusammenhängend mit der Klimakrise. Hat dich der Call zu dieser Arbeit inspiriert oder spielt die Auseinandersetzung mit den Themen Klima, Nachhaltigkeit und Umwelt schon länger eine Rolle in deiner Arbeit?

Thomas Medicus: Ich hatte schon immer dieses Naturthema, aber mehr auf einer Wissenschaftsebene und einer Wahrnehmungsebene, eher abstrakter. Konkret Biodiversität aufzugreifen, ist neu.

HS: Du sprichst von Biodiversität – es geht in deiner Arbeit um vier Tierarten, die in Tirol heimisch und vom Aussterben bedroht sind. Wie bist du auf diese Auswahl gekommen?

TM: Die Auswahl der Tiere ist ein vielschichtiges Thema. Die Auflage für das Projekt, die ich mir selbst gemacht habe, ist, dass es einen regionalen Bezug gibt und dass die Tiere entweder schon ausgestorben sind oder im Zusammenhang mit der Biodiversitätskrise und der Zerstörung von Lebensraum stehen. Dann wollte ich eine möglichst breite Auswahl von Tieren: Es gibt den Luchs als Säugetier, den Eisvogel, die Bachforelle als Fisch und die Biene als Insekt, also eine Breite an Spezies. Was erschwerend hinzu kommt: Bei diesen anamorphen Skulpturen müssen immer zwei Bilder genau dieselbe Fläche ausfüllen, es gibt also zwei Bildpaare. Es ist schwierig, diese Bilder zu generieren, und das macht natürlich die Auswahl auf eine gewisse Art eng.

HS: Die Jury hat dein Projekt ausgewählt, aber kritisch angemerkt, dass es einen Widerspruch gäbe zwischen dem inhaltlichen Fokus auf Klima, Umwelt und Biodiversität und zum anderen in der Auswahl der Materialien, die durchwegs industriell gefertigt sind und nicht unbedingt leicht recyclebar. Wie gehst du mit diesem Widerspruch um bzw. hat sich deine Arbeit dadurch verändert?

TM: Dass die Materialien nicht unbedingt nachhaltige Naturmaterialien sind, war mir natürlich vorher schon bewusst. Ich habe trotzdem eingereicht, habe die Materialauswahl aber nicht thematisiert. Jetzt im Prozess – und vielleicht auch mit den Reaktionen der Jury – hat sich der inhaltliche Fokus angefangen dahingehend zu verschieben, dass die Skulptur jetzt ein Dilemma aufgreift, in dem vielleicht die Menschheit als Ganzes steckt: Dass wir unseren Lebensraum so gestalten, dass er die Koexistenz von den meisten anderen nicht menschlichen Lebewesen verunmöglicht.

„Wir sind natürlich genauso Tiere und damit abhängig vom Gelingen von biologischen und ökologischen Prozessen. Wenn wir die Natur zerstören, dann wird es uns auch nicht mehr geben.“ –– Thomas Medicus

TM: Ich glaube, es ist die Frage zu stellen: Wie müssen wir uns als Menschen auf der Erde positionieren, damit diese zerstörerische Lebensweise nicht fortgesetzt wird? Über diese Frage bin ich dann auf das Konzept von Human/Animal Binary gestoßen. Ich habe spannend gefunden, dass es in unserem Kulturkreis eine Sicht von Natur gibt, die binär ist, die die Natur immer als etwas sieht, das außerhalb von uns stattfindet. Meistens auch als etwas, das hierarchisch unterhalb von uns stattfindet. Das sieht man zum Beispiel in der Massentierhaltung, in der Lebewesen industriell ausgebeutet werden.
Und tatsächlich ist das Verhältnis sehr viel verworrener, wir sind natürlich genauso Tiere und damit abhängig vom Gelingen von biologischen und ökologischen Prozessen. Wenn wir die Natur zerstören, dann wird es uns auch nicht mehr geben. Dieses Dilemma und dieser Widerspruch stecken in der Skulptur, die diese schönen Tierdarstellungen zeigt, aber gleichzeitig in einer industriellen Einbettung, wie museal auf diesem Betonsockel in diesem Glaskubus. Die Skulptur greift dieses Verhältnis auf, gibt aber keine Antwort darauf.

Betonsockel © Thomas Medicus
Schablone für die 144 Glasstreifen © Helene Schnitzer

HS: Bei deinen Arbeiten mit den Glaskuben geht es auch darum, dass sich Bilder erst in der Bewegung zusammensetzen. Es geht immer auch ein bisschen um Täuschung und um Fokussierung, würdest du das auch so sehen?

TM: Ja, genau! Mir ist klar geworden, dass sich das total gut eignet, um das Thema künstlerisch aufzugreifen, weil sich je nach Standpunkt die Bilder zusammensetzen oder in Einzelteile zerfallen. Das lässt sich gut übertragen auf Spezies oder Biodiversität, weil es an unserem Standpunkt, an unserer Haltung, an unserer Perspektive liegt, ob die Spezies zerfallen oder sich wieder zusammenfügen. Das habe ich eine passende Übersetzung gefunden.
Und ja, die Skulptur arbeitet mit Illusion, was natürlich die Gefahr der Suggestion in sich birgt. Für mich geht es oft um die Frage, wie sehr Kunst im öffentlichen Raum politische, gesellschaftskritische Themen aufgreifen soll oder muss, und wie weit Illusion, Schönheit oder Ästhetik dabei Platz haben. Ich gehe mit der Skulptur vielleicht einen Zwischenweg und versuche, das zu vereinen. Gerade beim Naturthema wird die Problematik erst in dem Moment klar, in dem man die unglaubliche Lebendigkeit von Natur wahrnehmen kann und damit auch die Schönheit.

© Thomas Medicus
© Thomas Medicus

„Bei meiner Kunst ist es oft die Idee, Dinge erlebbar zu machen – in dem Fall das Zerfallen und Wieder-Zusammensetzen von Spezies.“ –– Thomas Medicus

TM: Ich glaube, man kommt dem Thema gar nicht mehr aus. Bei mir hat es vielleicht den Ursprung, dass ich als Kind viel mit meinem Vater gereist bin. Wir haben oft Naturreisen gemacht und das war schon prägend. Und ich bin Künstler und merke, dass ich auf dieser Ebene am besten einen Beitrag leisten kann. Bei meiner Kunst ist es oft die Idee, Dinge erlebbar zu machen – in dem Fall das Zerfallen und Wieder-Zusammensetzen von Spezies. Ich glaube, Kunst hat oft die Aufgabe, Dinge in einer fragenden Art und Weise sichtbar zu machen. Ich will das nicht generalisieren, aber man sieht oft, dass Kunst das Dazwischen aufgreift, die Widersprüchlichkeiten, die Uneindeutigkeiten.

Kunst im öffentlichen Raum

HS: Du stellst öfters Arbeiten in den öffentlichen Raum. Auch diese Arbeit ist nicht für den White Cube gedacht, sondern für den öffentlichen Raum. Warum ist dir das wichtig?

TM:  Der öffentliche Raum ist ein spannender Ort, weil man Kunst zugänglich macht für alle Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen, die vielleicht gar nicht auf der Suche nach Kunst sind. Man erreicht Menschen auf einer breiteren Ebene.

HS: Es gibt oft auch einen kulturvermittlerischen Ansatz in deinen Arbeiten, z.B. eine Textebene. Im Konzept sprichst du auch von Vorträgen oder diskursiven Veranstaltungen mit Expertinnen und Experten aus dem jeweiligen Bereich. Gibt es dazu schon Genaueres?

TM: Gerade bei solchen Projekten, die wissenschaftliche oder gesellschaftliche Themen aufgreifen, gibt es meistens Menschen, die sich schon ihr ganzes Leben mit einem bestimmten Diskurs befassen. Da merke ich, dass ich diese Expertise nur bis zum gewissen Punkt liefern kann. Da komme ich wieder auf den Punkt zurück, dass ich mich als Künstler sehe, und ich finde es total okay, zu sagen: Es gibt diese Arbeit und man verwendet sie als Aufhänger für einen Beitrag von einer anderen Person.

Glas und Transparenz

HS: Magst du etwas zu deinem Verhältnis zu Glas sagen? Wie kommst du zur Auswahl von diesem Werkstoff und warum beschäftigst du dich vor allem mit Glas?

TM: Ich bin mit Glas in Berührung kommen, als ich in Kramsach das College in der Glasfachschule gemacht habe. Dort habe ich alle Techniken kennengelernt, die man für Glaskunst verwenden kann. Danach habe ich in der Tiroler Glasmalerei gearbeitet und auch dort die Möglichkeit gehabt, weiter mit dem Werkstoff zu arbeiten. Dadurch habe ich einen starken Glas-Fokus entwickelt. Davor habe ich das Material eigentlich nicht für Kunst in Erwägung gezogen. Aber ich finde durch die Transparenz eignet sich Glas gut, dieses Dazwischen, diese Uneindeutigkeiten aufzugreifen. Glas reflektiert sein Umfeld. Durchsichtige Materialien werden überhaupt erst dadurch sichtbar, dass sie das Licht brechen, das sie durchdringt. Dadurch lässt sich das Material vielseitig einsetzen.
Es gibt aber auch einen ganz praktischen Grund. Jedes Material ist irrsinnig komplex, und es gibt so viel zu wissen, so viele technische und praktische Fragen, sodass es ausfüllend ist, sich mehr oder weniger auf ein Material zu fokussieren. Aber auf der anderen Seite will ich mich gar nicht nur über das Material definieren. Ich versuche schon, zuerst Ideen zu generieren und erst dann die Materialfrage zu stellen.

Eine mittelalterliche Technik

HS: Du hast bei diesem Arbeitsprozess die Möglichkeit, Glas anders zu bearbeiten als bisher – oder anders als geplant. Du wolltest eigentlich mit bedruckten Klebestreifen arbeiten und hast dich dann für eine andere Technik entschieden. Magst du die kurz beschreiben?

TM: Für diese Arbeit habe ich eine aufwendige Technik gewählt, die sehr wertig und langlebig ist und mir wesentlich besser gefällt als digital bedruckte Klebefolien. Da werden viele Glasstücke aus sogenanntem „mundgeblasenem Echt-Antikglas“ ausgeschnitten. Das ist buntes Glas, das man vor allem von Bleiverglasungen von Kirchenfenstern kennt. Das ist genau dasselbe Material und eine Technik, die es schon seit dem Mittelalter gibt. Diese Echt-Antik-Glasstücke werden dann mit Schmelzfarben handbemalt und bei 600 Grad gebrannt, sodass sich die Farben mit der Glasoberfläche verbinden. Solange das Glasstück nicht zerbricht, bleibt die Farbe erhalten. Das hat mir auch gefallen bei dem Projekt, dass ich zwar industrielle Materialien verarbeite, gleichzeitig das Objekt im besten Fall viele Jahre existieren kann, ohne sich wesentlich zu verändern. Vielleicht wird die Installation eines Tages in einem anderen gesellschaftlichen Kontext stehen: Entweder als Mahnmal, das sich bewahrheitet hat oder als Relikt aus einer vergangenen Zeit.

Mundgeblasenes Echt-Antikglas © Helene Schnitzer
Eisvogel © Thomas Medicus
Bachforelle © Thomas Medicus
Echt-Antik-Glasstücke werden handbemalt und gebrannt. © Thomas Medicus

HS: Das ist spannend, weil die Ressourcenfrage ja immer auch im Verhältnis zur Nutzungsdauer zu stellen ist. Wenn die Nutzung über einen sehr langen Zeitraum angelegt ist, rechtfertigt das vielleicht einen gewissen Materialeinsatz?

TM: Es ist natürlich immer einfach, Dinge zu relativieren, aber ich denke auch – wenn das Objekt in 30 Jahren immer noch wo steht, dann macht das auf jeden Fall einen Unterschied, als wenn man es für einen Tag aufbaut und dann in den Müll kippt.

Kunst und Nachhaltigkeit

HS: Vielleicht abschließend nochmal zu der Frage: Wie nachhaltig müssen denn Kunstprojekte sein? Der internationale Kunstbetrieb ist nicht besonders nachhaltig, da wird viel geflogen, viel gebaut, viel weggeschmissen. Wie stehst du dazu?

TM: Das ist natürlich ein Problem z.B. die weiten Transportwege. Ich glaube, es besteht wieder dasselbe Dilemma, dass wir alle in diesen Prozessen drinstecken und man jetzt nicht einfach hergehen und das abdrehen kann, obwohl das eigentlich schon längst notwendig wäre. Den Diskurs braucht es trotzdem, und den kann die Kunst anstoßen und darauf zielt das Projekt ab.

HS: Vielen Dank für das Gespräch!

TM: Danke dir!

 


Die Kunstinstallation Human/Animal Binary ist ab Anfang November 2021 auf dem Platz zwischen Landestheater und Hofgarten in Innsbruck zu sehen.

Das Projekt Human/Animal Binary wird im Rahmen von TKI open 21_ausbaden gefördert. Der Fördertopf TKI open ist eine seit 2002 bestehende Kooperation von Land Tirol und TKI – Tiroler Kulturinitiativen. Seither erfolgt die Ausschreibung des Fördertopfes, der sich explizit an zeitgenössische Kunst- und Kulturprojekte richtet, jährlich zu wechselnden Schwerpunktthemen.

Thomas Medicus © Marvin Smith

Über den Künstler
Der bildende Künstler Thomas Medicus lebt und arbeitet in Innsbruck. Neben den bekannten anamorphen Kuben arbeitet er auch in Bereichen wie Illustration, Animation, digitale Kunst, Glasmalerei, Restaurierung und Konservierung sowie Kunst im öffentlichen Raum. Er studierte Sozialarbeit am MCI Innsbruck, bevor er die Glasfachschule in Kramsach besuchte und dort den Meistertitel für Glaserei erwarb. Neben seiner Tätigkeit als freischaffender Künstler war er sieben Jahre lang in der Traditionsfirma für Glasfenster Tiroler Glasmalerei beschäftigt. Anfang 2021 machte er sich selbstständig und gründete seine Firma Studio Medicus.
thomasmedicus.at
Über die Autorin
Helene Schnitzer, geb. 1966, Studium der Kunstgeschichte, Postgraduate-Lehrgang Ausbildung zur Kuratorin im Museums- und Ausstellungswesen am Institut für Kulturwissenschaft in Wien. Seit 2000 Geschäftsführerin der TKI - Tiroler Kulturinitiativen.
Bildsequenz Eisvogel/Bachforelle © Thomas Medicus
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