Im Zweijahresrhythmus lenkt das Symposium Kultur im Dorf – Dorfkultur den Blick auf die Potenziale kultureller Vielfalt in ländlichen Räumen. Die TKI – Tiroler Kulturinitiativen bringt mit diesem Format Menschen aus Politik, Verwaltung, Kulturarbeit, Bildung, Nachhaltigkeit, Regionalentwicklung und Zivilgesellschaft zusammen, um durch Impulse den Dialog zwischen Disziplinen zu aktivieren, Kooperationen zu stärken und Handlungsperspektiven für Kulturarbeit am Land zu eröffnen.
Im Juni 2025 liegt der Fokus auf innovativen Strategien zur Entwicklung lebendiger Regionen. Mitinitiator und zugleich Gastgeber ist der Kulturverein Grammophon, denn die aktivierende Zusammenkunft findet im Kultur- und Gemeinschaftshaus Neuwirt in Wattens statt. Als wiedererwecktes, äußerst lebendiges Kulturhaus für das Dorf und die Region stellt er selbst eine solche innovative Strategie dar.
Um kurz vor halb fünf ist der mondäne Festsaal des Neuwirt bis ganz hinten voll mit Menschen, letzte Getränke werden geholt, die Polstersessel zurechtgerückt, dann sitzen alle. Dass unter der hohen Stuckdecke einst rauschende Bälle, Theatervorführungen und Preiswatten stattgefunden haben, erzählt später Alexander Erler, Obmann von Grammophon. Vorerst begrüßt jedoch Helene Schnitzer, Geschäftsführerin der TKI, zum Symposium. Vom Lokalen solle es heute ins Regionale gehen – ein Begriff, der sich alles andere als leicht fassen lässt, wie sich später in den Diskussionen zeigen wird.
Der Wattener Bürgermeister Lukas Schmied stellt zur Einleitung die provokative Frage: Warum tun wir uns Kultur an? Ihm würden die Argumente um Wirtschaftskraft, Arbeitsplätze und Imagebildung nicht genügen – das solle man denen erzählen, die es hören wollen. Ihm ist vielmehr die Reibung wichtig, der Austausch, die Selbst- und Weltreflexion, die über Kultur stattfinde. Tirol bezeichnet er als „einen einzigen ländlichen Raum“, für den es kluge Strategien brauche. Wie diese aussehen könnten – in Tirol oder im Norden Deutschlands – wird an diesem Abend noch sichtbar werden.
Landeshauptmann Anton Mattle stellt in seinem Eingangsstatement den Konnex zum Euregio Museumsjahr her, mit dessen Fokus auf die Bauernaufstände von 1525, und zu Michael Gaismair, dem so bedeutenden Tiroler Sozialreformer. „Reißt die Stadtmauern nieder, die Menschen am Land und in der Stadt sind dieselben“, habe dieser gesagt. Ländlich und urban sei also relativ, Kultur finde überall dort statt, wo es engagierte und begeisterungsfähige Menschen gibt, und zwar in der ganzen Breite von der Traditionskultur bis zum Zeitgenössischen.
Über das Online-Tool Mentimeter werden nun auch erste Statements aus dem Publikum auf der Leinwand sichtbar. Eine Punktwolke stellt außerdem dar, wer hier heute vertreten ist – etwa zu gleichen Teilen sind es Akteur*innen aus der Kunst- und Kulturarbeit, Menschen aus Politik und Verwaltung und solche aus Feldern, in denen wichtige Überschneidungen mit der Kultur passieren, etwa Bildung oder Wissenschaft. Die Voraussetzungen für eine konstruktive Auseinandersetzung sind also da.
Die Moderatorin Katharina Erlacher leitet dann zum Impulsvortrag über und findet eine einprägsame Beschreibung für Kultur: „Kultur ist das Jetzt, gemeinsam besprechbar und fühlbar gemacht.“
Über den Bildschirm ist nun Harriet Völker aus Leipzig zugeschaltet, Programmreferentin bei TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel. Diese Initiative der deutschen Kulturstiftung des Bundes unterstützt Regionen in Transformationsprozessen, mit dem Ziel der Weiterentwicklung und dauerhaften Stärkung des jeweiligen Kulturangebots.
Zwischen 2015 und 2025 wurden im Rahmen des Programms in zwei Phasen insgesamt 26,5 Millionen Euro ausgeschüttet, mit einer Kofinanzierungsquote der Regionen von 20 Prozent. Beim Folgeprogramm AllerLand werden es zwischen 2024–2030 sogar 70 Millionen Euro sein – und entsprechend mehr Regionen: 97 in der ersten Phase und 30 in der zweiten. Die Kofinanzierung liegt bei nur mehr 10 Prozent.
Völker macht deutlich, dass es bei den meisten Projekten vor allem um das gemeinschaftliche Tun geht, um die Integration der lokalen Vereine und Ehrenamtlichen und das Schaffen von Begegnungsorten, auch in Regionen, die üblicherweise als “strukturschwach” bezeichnet werden und wo der Zulauf an den politischen Rändern groß ist.
TRAFO zeigt: Wandel kann kreativ und gemeinschaftlich gestaltet werden. Kulturelle Teilhabe ist kein Nebenthema, sondern ein zentraler Baustein, um annähernd gleichwertige Lebensverhältnisse in der Stadt und auf dem Land zu ermöglichen. „Auf diese Weise ist lokale partizipative Kulturarbeit ein zentraler Hebel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die regionale Entwicklung“, so Völker. Dabei entstehen Ansätze und Ideen, die auch über die Modellregionen hinaus inspirierend und wirksam sein können.
Das prägt sich beim Publikum ein und bietet Stoff für den Austausch mit Sitznachbar*innen und in den Pausengesprächen. Was außerdem sehr positiv wahrgenommen wurde, ist, dass die beiden Förderprogramme sehr offen und flexibel gehalten sind. Der Fokus liegt auf dem Ausprobieren, Methoden können laufend verändert und Konzepte adaptiert werden, um echte Lernprozesse zuzulassen.
Ausgehend von kleinen Pilotprojekten werden größere Strukturen entwickelt, die dann auch dauerhaft erhalten bleiben. „Wir kämpfen für langfristige Förderungen“, sagt Völker, „Strukturen zu verändern, dauert mindestens fünf Jahre.“ Auch in Tirol wären mehr Ressourcen zur Verstetigung von Beteiligungs- und Entwicklungsprozessen notwendig – auf regionaler Ebene und themenübergreifend, meint dazu das Publikum. Auch die Tatsache, dass die deutschen Fördertöpfe aus mehreren Ministerien gespeist sind – Kultur, Landwirtschaft, Inneres und Bundeszentrale für politische Bildung – ist ungewöhnlich und beeindruckt. Kultur als Querschnittsmaterie und ein intensiver Austausch zwischen den Behörden – ein Wunsch auch für Österreich.
In den nun folgenden Präsentationen zweier aus dem TRAFO-Programm geförderten Projekten werden die Besucher*innen des Wattener Kulturgasthauses an die Ostsee nach Schleswig-Holstein und in den äußersten Nordwesten von Mecklenburg-Vorpommern an der Grenze zu Polen mitgenommen. Gegenden, die auf den ersten Blick so gar nichts mit Tirol zu tun haben, und tatsächlich landschaftlich wie strukturell andere Voraussetzungen aufweisen. So einiges lässt sich trotzdem von dort abschauen.
Als Erste kommen Stefanie Kruse und Sandra Wierer aus Schleswig-Holstein auf die Bühne und stellen das Projekt KreisKultur vor. Fünf öffentliche Institutionen, darunter die Landesmuseen, das Landestheater, die Musikschule und die Volkshochschule, haben sich in der Region Rensburg-Eckenförde zu einer Transformationsgemeinschaft zusammengetan, die gemeinsam einen Beitrag zum kulturellen Leben außerhalb der Stadt leisten wollen. Sie möchten Zukunftsängsten mit Mitgestaltungs-Angeboten begegnen und Dorfgemeinschaften anregen, über ihre gemeinsame Zukunft nachzudenken. Austausch, Kommunikation und Zusammenarbeit stehen im Mittelpunkt.
⟶ Reinhören: Statement von Sandra Wierer
In Begleitung des KreisKultur-Büros werden Themen erarbeitet, die für die Menschen vor Ort Bedeutung haben, und mit kokreativen und künstlerischen Methoden Projekte entwickelt, die für den jeweiligen Ort Identifikation herstellen und dadurch langfristig wirksam sind: Die gemeinsame Gestaltung des Dorfplatzes, ein Projekt zur Verkehrsberuhigung, ein Krimidinner, ein generationenübergreifendes mobiles Musical, ein Dorfrezeptbuch, ein Kurzfilm oder die Dokumentation historischer Hofgeschichten. Dabei ist auch das „Stören“ und Irritieren wichtig, das oft im Austausch mit den Projektkoordinatorinnen oder externen Künstler*innen entsteht.
David Adler ist geschäftsführender Gesellschafter des Kulturlandbüros in Mecklenburg-Vorpommern. Er erzählt über die Aktivitäten der Beratungs-, Kommunikations- und Netzwerkstelle, die ebenfalls aus einem TRAFO-Projekt entstanden ist. „Wir sind eine kreative Ergänzung zur Verwaltung, flexibel und mobil vor Ort und haben eine „Ja, wenn“-Haltung statt einer „Nein, weil“- Einstellung“, sagt er.
Mit Formaten wie den künstlerischen Dorfresidenzen, gemeinsam erarbeiteten Veranstaltungen oder einer digitalen Kulturlandschatzkarte werden Impulse gesetzt, um Menschen zu aktivieren, in Kontakt zu bringen, individuelles Empowerment zu ermöglichen und Gemeinschaften zu stärken. In einer strukturschwachen Region, die von Abwanderung und demografischem Wandel geprägt ist, wird genau das gebraucht. „Es soll sich dort etwas Dauerhaftes etablieren, stabile Strukturen, die einen Beitrag zur Regionalentwicklung leisten.“
Die Aussage, dass in seiner Gegend Kultur als etwas eher “Harmloses” angesehen wird, bereitet den Symposiumsbesucher*innen anschließend Kopfzerbrechen. Es stellt sich die Frage, ob Kunst und Kultur dort kaum als Instrument für kritische Auseinandersetzung, Reibung und Diskurs verstanden werden. Im Austausch mit David Adler zeigt sich, dass dies auf den ersten Blick so scheinen mag, aber dass durch vielfältige kulturelle “Akupunkturen” nach und nach genau solche Räume der konstruktiven Reibung und des Aushandelns geschaffen werden. Der Kulturbegriff ist dennoch ein anderer, ein breiterer – für den man sich durchaus öffnen sollte, wie Helene Schnitzer in ihrem Abschlussstatement festhält.
Die Kontraste zwischen den vorgestellten, teils dünn besiedelten Regionen Deutschlands und dem vergleichsweise dichten Tirol regen auch noch nach Ende des vierstündigen Symposiums zu Diskussionen an – darüber, wo kulturelle Leere auch im Versteckten existiert, ob Begegnung und Austausch wirklich alle Menschen inkludiert, was “Vielfalt” für unterschiedliche Gruppen bedeutet u.v.m. Einigen kann man sich aber sehr wohl auf die Erkenntnis, dass Kultur da wie dort das gemeinsame Verhandeln und Entwerfen unseres Zusammenlebens ist und damit tatsächlich gilt: Kultur ist Regionalentwicklung.
Ein kokreativer Workshop für die Kulturentwicklung am Land
Tags darauf findet sich eine geladene Gruppe aus etwa 25 Personen noch einmal im Neuwirt ein, um bei einem Workshop die Inhalte des Symposiums zu vertiefen, mögliche Handlungsspielräume für Tirol aufzuspüren und sich über unterschiedliche Sparten hinweg zu vernetzen. Es sind Leute aus der praktischen Kulturarbeit, Wissenschaft und Bildung, Museumsleiter*innen und Architekt*innen, ebenso wie Regionalmanager*innen, Kulturbeamt*innen und Vertreter*innen der Tirol Werbung.
„Der Aufbruch gelingt besonders nachhaltig in der Gemeinschaft“, sagen Stefanie Kruse und Sandra Wierer, die Referentinnen vom Vortag, die den Workshop geleitet haben. „Unsere kokreative Arbeitsweise schafft eben dafür Räume: gemeinsam über Herausforderungen sprechen, Lösungsideen entwickeln und dadurch Gemeinschaften und Kulturlandschaften stärken.”
Kokreativ, das heißt hier zuerst mal: knallbunte Knetmasse zur Hand nehmen und modellieren, was bisher inspiriert oder irritiert hat. Die Teilnehmer*innen legen mit unterschiedlichem Elan und Gesichtsausdruck los, doch irgendwie kommen alle ins Tun und es entstehen Formen, die durchaus treffend die persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema transportieren – Netzwerke, Zusammenarbeit, Out-of-the-box_Denken, Vielfalt zulassen, Durchlässigkeit. Einer kippt den zylindrischen Block Knete einfach aus der Originalverpackung auf den Tisch und erklärt, es gehe in der Kulturarbeit doch auch darum, erst einmal das wahr- und anzunehmen, was da ist, bevor wir an Veränderung denken.
In kleineren Tischrunden und später im großen Kreis werden die spezifischen Besonderheiten von Regionen in Bezug auf Kultur diskutiert. Der Tourismus ist dabei ein Thema, aber auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Eventcharakters von Kultur, nach den Möglichkeiten, Kultur in der Orts- und Raumplanung stärker mitzudenken und in Infrastrukturen ganz selbstverständlich zu integrieren.
In Bezug auf Strukturen und Kommunikation geht es auch darum, wie es gelingen kann, sich nicht in immer neuen Vernetzungsgruppen auszubrennen, sondern die Ressourcen so einzusetzen, dass Veränderung tatsächlich passiert. Die Workshopleiter*innen aus Deutschland betonen in dem Zusammenhang, wie wichtig es ist, dass die Agenda Kultur als Regionalentwicklung „ganz hoch aufgehängt wird“, also auch von den höchsten politischen Ebenen mitgetragen wird, um so Selbstverständlichkeit und Sichtbarkeit zu ermöglichen.
Am späteren Vormittag, nach Kaffee und Kuchen im sonnigen Neuwirtgarten, geht es um das Erarbeiten von Ansätzen für lebendige Regionen in Tirol. Zwei grundsätzliche Zugänge sind dabei zu erkennen – der praktisch-angewandte und der strukturell-theoretische. Klar, dass es beide braucht, um erfolgreich zu sein, ist das gemeinsame Fazit. Playmobilfiguren unterstützen nun die Knetmasse und der bullige Gorilla, der feuerspeiende Drache oder der diffuse Geist bringen so manche Tücken kultureller Entwicklungsprozesse auf den Punkt und gleichzeitig Bewegung in die Diskussionen.
Die vielen Aspekte lassen sich in Inhaltliches und Strukturelles gliedern. Inhaltlich wurde sichtbar, dass Kultur für lebendige Regionen insbesondere das Stärken von Gemeinschaften und Selbstwirksamkeit bedeutet, dass es aber auch die experimentellen, künstlerischen Impulse und produktiven “Irritierer*innen” braucht – und dass wir kritisch hinterfragen müssen, welche Personengruppen wirklich an dieser Gemeinschaft teilhaben und wer außen vor bleibt.
Im Strukturellen kommt klar heraus, dass die Instrumentarien auf allen politischen und verwalterischen Ebenen noch besser koordiniert werden müssen, um etwa bestehende Einrichtungen wie die Regionalmanagements in ganz Tirol künftig vermehrt mit Kultur aufladen zu können.
Es braucht lernende, adaptierbare Systeme und flexible Methodenkoffer. Die Kulturagenda muss von allen politischen Ebenen und Institutionen und auch von den Medien getragen werden. Es braucht auch in Tirol und Österreich kulturpolitische Ansätze, die wie bei TRAFO klare Zielsetzungen für die kulturelle Regionalentwicklung verfolgen, die längerfristig funktionieren und Raum für Experiment und Entwicklung eröffnen. Und es braucht Lösungen für das bestehende Ressourcenproblem, das in der Kulturarbeit allgegenwärtig ist.
Worauf sich alle einigen können: Kultur muss als Querschnittsmaterie gelten, dann wird sie in der fruchtbaren Entwicklung von Regionen wirksam.
TKI - Tiroler Kulturinitiativen
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