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Nicht daheim und doch zuhause

Nicht daheim und doch zuhause

verfasst von Kunigunde Weissenegger
Beitrag vom 26.06.2023
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur"
© Verena Nagl

Am 16. Juni 2023 fand auf Initiative von TKI – Tiroler Kulturinitiativen und dem Kulturverein Grammophon mit der Unterstützung des Landes Tirol im Kultur- und Gemeinschaftshaus Neuwirt in Wattens das Symposium „Kultur im Dorf – Dorfkultur: Dritte Orte als Zukunftslabore für Tirol“ statt. Es folgt ein Quasi-Live-Report von einem Dritten Ort …

… wie es wahrscheinlich viele sein könnten … und doch wird jeder seine Besonderheiten haben … Wattens zum Beispiel hat den Inn, der sich an der Grenze zum Nachbardorf Fritzens vorbeischleicht, genauso wie Autobahn und Zuggeleise, hat Kristallwelten, Papierfabrik, Einkaufsshoppinglager, in den blauen Himmel ragende Kamin- und Kirchtürme, Disco und spaßiges Sommerkinderprogramm …

Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Kunigunde Weissenegger
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Kunigunde Weissenegger
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Kunigunde Weissenegger
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Kunigunde Weissenegger

Es ist Freitag, der 16. Juni 2023, Nachmittag. Das Ankommen fällt leicht, der Spaziergang vom Bahnhof Fritzens-Wattens ins Zentrum zu einem der glücklicherweise noch vorhandenen Dorfgasthäuser geht sich zu Fuß gemütlich in einer Viertelstunde aus. Unser Ziel ist der über hundertjährige Neuwirt am Wattenbach: Nicht direkt in dessen Gasthofstube wollen wir, sondern gleich daneben in den ehemaligen Tanzsaal bzw. das nunmehrige Kultur- und Gemeinschaftshaus mit demselben Namen als Teil des Ensembles, wie uns Obmann Alexander Erler vom Kulturverein Grammophon nach dem lässigen Einstieg von Moderatorin Katharina Erlacher – „lassen wir nun hier und heute also die Gedanken tanzen …“ erzählt. Dort findet heute das Symposium „Kultur im Dorf – Dorfkultur: Dritte Orte als Zukunftslabore für Tirol“ statt, organisiert von TKI – Tiroler Kulturinitiativen sowie Kulturverein Grammophon mit Unterstützung des Landes Tirol.

Katharina Erlacher © Verena Nagl
Symposium © Verena Nagl

Vom unverbauten, idyllischen Haufendörflein zur heutigen stattlichen Marktgemeinde Wattens war es ein langer Weg, wie die Geschichte zeigt und Alexander Erler erzählt, auch der Neuwirt hatte Hochzeiten und Hochwasser zu verbuchen. „1909 beschlossen die Wirtsleute einen hellen und prächtigen Tanzsaal zu errichten, der 1951 niederbrennt, wiedererrichtet wird und für 40 Jahre die Drehscheibe des Dorflebens war.“ In der Jetztzeit angekommen, organisiert nun der Kulturverein Grammophon, hervorgegangen aus dem Festival Wiesenrock, hier im Kultur- und Gemeinschaftshaus Neuwirt seit zwei Jahren zum einen Veranstaltungen (2022 waren es 220) und ruft zum anderen zum Mitmachen auf. „Es wächst und ist ein Versuch, ein Haus das vor 120 Jahren zu Bedeutung gekommen ist, im Hier und Jetzt wieder mit Bedeutung zu füllen: Ein Gasthaus für das 21. Jahrhundert.“

Alexander Erler, Kulturverein Grammophon © Verena Nagl
Lukas Schmied, Bürgermeister von Wattens © Verena Nagl

Ein Gasthaus für das 21. Jahrhundert

Vor dieser Kurzvorstellung reicht die Moderatorin natürlich auch Lukas Schmied, dem Bürgermeister von Wattens, das Mikrophon: „Kunst und Kultur haben in Tirol nicht immer den einfachsten Stand, manchmal habe ich das Gefühl, dass uns die schönen Berge die Aussicht verstellen.“ Und er unterstreicht seinerseits auch ausdrücklich, dass die Politik noch viel stärker eine Mittäterschaft für Kunst und Kultur übernehmen muss, und wir – in Tirol, Südtirol und Vorarlberg auch fernab von großen Kulturzentren – einen eigenen Weg finden müssen, um die Stärken der Orte zu nutzen. „Dritte Orte können Begegnungsorte, Dritte Orte können Orte der sozialen Kontakte sein, Dritte Orte sind für mich vor allem Orte, wo Dinge verschmelzen und ineinandergreifen können“, betont auch der Tiroler Landeshauptmann Anton Mattle in seiner Begrüßung den Grund des Zusammentreffens. Er unterstreicht, dass es ihm (trotz vollen Terminkalenders) ein Anliegen ist, mit seiner Anwesenheit hier beim Symposium allen Kulturschaffenden gegenüber seine Wertschätzung zu zeigen.

Landeshauptmann Anton Mattle © Verena Nagl
Symposium © Verena Nagl

So weit, so gut. Aber, was sind denn nun eigentlich diese Dritten Orte? Bertram Meusburger vom Büro für Freiwilliges Engagement und Beteiligung des Landes Vorarlberg beginnt seinen Impulsvortrag mit den Worten, „dass eigentlich schon von den Vorredner*innen im Kern alles gesagt wurde. Ich systematisiere das noch ein bisschen: Wenn wir die genannte Vielfalt, Gaudi und das Bei-der-Sache-Sein hinterfragen, kommen wir auf interessante Dinge.“ Was sind Dritte Orte, wozu werden sie eingesetzt, wer steckt dahinter, wie wird vorgegangen, warum macht es Sinn, sich mit Dritten Orten zu beschäftigen, und wie ist er selbst in dieses Thema hineingerutscht, sind die Fragen, die er aufwirft und beantwortet.

Bertram Meusburger © Verena Nagl
Symposium © Verena Nagl

Es geht um Haltung, und wie man Menschen beteiligt

Zusammenfassend könnten wir ihn so zitieren: „Dritte Orte sind ein Treffpunkt außerhalb vom Ort der Familie und Ort der Arbeit, es sind Begegnungs- und Experimentierräume jenseits von Arbeiten und privatem Wohnen – Bedarfsorientierte Räume mit funktionaler Mischung, offene Räume mit gewissen Spielregeln und einem notwendigen Minimum an Organisation, abhängig vom Zeitgeist und seinen Notwendigkeiten, bunt und international sehr unterschiedlich, dem öffentlichen Raum einen Charakter gebend und einen wichtigen Beitrag für die Lebensqualität und die Entwicklung der Kultur des Zusammenlebens leistend. Eine wesentliche Rolle spielt die Haltung (auch der Politik): Ein Gasthaus stellt nicht per se einen Dritten Ort dar, jedoch das Verhalten der Gastgeber*in kann es zu einem Ort machen, wo alle willkommen geheißen werden und sich wohlfühlen. Das ist das Entscheidende.“ Aufschlussreich ist auch das Positionspapier zu Dritten Orten von Bertram Meusburger und Nina Almer, hier nachzulesen.

All diese Inputs liefern Gesprächsstoff und der Aufforderung von Katharina Erlacher, sich mit dem*der Sitznachbar*in auszutauschen, wird prompt Folge geleistet.

Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl

Mittlerweile scheint die Sonne. Nach einigen Stellungnahmen und Rückfragen zu konkreten Situationen (Das Kulturprojekt Alte Schule Neustift im Stubaital soll geschlossen werden, die Alte Gerberei gehört jetzt dem Verein Musik Kultur St. Johann) wird’s Zeit für eine Kaffee- und Ratschpause …

Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl

Nach der Pause werden im Doppelpack aus Betreiber*innen von Dritten Orten und Unterstützer*innen aus Politik und Verwaltung drei gut funktionierende Projekte vorgestellt.

La Foresta – Station for Transformation

Als erste erklären Bianca Elzenbaumer, Mitgründerin von La Foresta in Rovereto, sowie Mauro Previdi, Gemeinderat für Soziales, und Marco Mozelt, Leiter des Büros für Soziales, den Werdegang der Gemeinschaftsakademie „La Foresta – Accademia di comunità“ in Rovereto im Trentino. Die Geschichte beginnt mit einem leerstehenden, ungenutzten Gebäude am Bahnhof von Rovereto: Die Staatsbahnen Ferrovie Italiane beschlossen, im Sinn einer Aufwertung der Stadtverwaltung einen 140 m2 großen Raum zu übergeben.

„La Foresta – Accademia di comunità“ © Verena Nagl

Gemeinsam erarbeiteten die Gemeinde Rovereto, ca. 42 Leute und 20 Vereine sowie die Bahn Ende 2017 in einem Co-Design-Prozess einen Plan, woraufhin festgelegt wurde, dass der Raum 9+9 Jahre der Gemeinde kostenlos zur Verfügung steht und sie ihn auf eigene Kosten renoviert. Unter dem Netzwerktitel „La Foresta“ (bedeutet im Trientner Dialekt „die von außen Kommende“) treffen seit 2021 in diesem multifunktionalen Event-Raum mit Kochmöglichkeit etliche Vereine aus der Umgebung, ältere und jüngere Menschen zusammen, fördern und veranstalten partizipativ Initiativen und Aktivitäten in den Bereichen Kultur, Kunst, Wirtschaft, Kulinarik, Bildung, Soziales, Forschung, Nachhaltigkeit und Do-it-yourself. Dadurch dass der Raum eher klein ist, versucht die Gruppe von Vereinen mit ihren Veranstaltungen auch immer hinaus ins Dorf auf die Plätze zu den Leuten zu gehen und so Raum zu gewinnen. „Im Zufall entsteht viel Cooles.“

Rathaus für Kultur – weil es sich auszahlt

Wir springen von Italien in die Schweiz und die Kleinstadt Lichtensteig im ländlichen Raum: Die Bühne betreten Sirkka Ammann, Co-Leiterin des Rathauses für Kultur, und Stadtpräsident Mathias Müller, unterstützend im Publikum präsent auch Hanes Sturzenegger, Co-Leiter der Dogo Residenz für Neue Kunst im Rathaus für Kultur. Die beiden berichten von der Transformation und Umnutzung von Gebäuden aufgrund von Nichtnutzung und Abwanderung: eine Telefonzelle wurde in ein Museum verwandelt, die Feuerwehrhalle in einen Second-Season-Laden, der Fußballplatz in einen Begegnungsort, die Post in ein Coworking Space.

Sirkka Ammann, Co-Leiterin des Rathauses für Kultur © Verena Nagl
Stadtpräsident Mathias Müller © Verena Nagl

Die Stadtverwaltung selbst ist schließlich in das Bankgebäude gezogen und hat das 660 m2 große Rathaus einem Verein übergeben, der sich ursprünglich auf Kunstresidenzen konzentrierte, dann aber aufgrund der Größe das Haus so vielen Menschen wie möglich öffnen wollte. Seit 2019 ist das Rathaus für Kultur nun ein Knotenpunkt für kulturelles Schaffen und vernetzt Kunst- und Kulturschaffende mit der Bevölkerung, entwickelt Ideen und Projekte und gestaltet maßgeblich die Zukunft der Region mit. In den Ateliers, Event-, Probe- und Ausstellungsräumen, der Dogo Residenz für Neue Kunst und der Bar finden regelmäßig Konzerte, Parties, Ausstellungen oder Talks statt. „Jede Gemeinde braucht ein Rathaus für Kultur, weil es sich auszahlt“, meint der Bürgermeister abschließend.

Misch dich ein! – Altes Hallenbad Gallneukirchen

Zurück nach Österreich und nach Gallneukirchen: Thomas Auer, Prozessbegleiter für das Nachnutzungsprojekt Altes Hallenbad, und Sepp Wall-Strasser, Bürgermeister der Stadtgemeinde Gallneukirchen, stellen ihr Projekt für das Alte Hallenbad vor: 2013 behördlich geschlossen, dann Zwischennutzung, 2017 im Zuge eines Kulturentwicklungsprozesses Forderung für Leerstandnutzung, 2018 erstes Nachnutzungskonzept und Idee für Leader-Projekt, 2021 Stadtratsbeschluss für Öffnung zu kulturellen Zwecken, 2022 Start eines Beteiligungsprozesses – so könnte im Telegrammstil die Geschichte nachgezeichnet werden.

In Workshops brachte die Bevölkerung Ideen, Wünsche, Vorschläge ein und schließlich wird der unabhängige, überregionale, für alle offene Verein Kulturpool Gusenthal gegründet, dem neben den Freiwilligen seit 5. Juni auch ein Geschäftsführer beiseite steht. Das Alte Hallenbad gibt’s übrigens auch als Computerspiel. „Zentral für einen derartigen Prozess ist der Zusammenschluss aller Akteur*innen aus Kultur, Wirtschaft, Tourismus, Gastronomie usw. der Region ebenso wie die Unterstützung der Politik und die Wichtigkeit, alle Bedürfnisse ernst zu nehmen,“, schließt Thomas Auer den Input. Einen guten Eindruck in das Projekt gibt das Video, das in der Seitenleiste zu finden ist.

Thomas Auer, Prozessbegleiter für das Nachnutzungsprojekt Altes Hallenbad, und Sepp Wall-Strasser, Bürgermeister der Stadtgemeinde Gallneukirchen © Verena Nagl

Kultur als Chance: Kultur vor Ort

Bevor es für Austausch, Diskussion und Fragen an die Tische in Stube, Saal und Foyer geht, stellt Helene Schnitzer die TKI – Tiroler Kulturinitiativen und das Projekt „Kultur vor Ort“ vor, das kulturelle Potenziale in den Gemeinden erkennen und stärken soll, weil Kunst und Kultur wichtige Elemente für eine nachhaltige Ortsentwicklung sind. Ein Kulturentwicklungsprozess kann 2–3 Monate dauern und schließt mit der Formulierung konkreter Maßnahmen, Ziele und Schritte ab.

Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl

Aufzuschnappen sind in der ausgiebigen, einstündigen Reflexion an den sieben verschiedenen Tischen Stichworte wie Belebung von Ortskernen, Anders-Denken, Vertrauen und Vorwürfe, Vernetzung von Raumsuchenden, Raumbietenden und Raumfindenden, Nischen, Auffangbecken, Verständnis für Engagierte, Sprachrohr und Resonanzmedium, Prozessbegleitung, Mehrwert und Widerstände legen, Dranbleiben, langen Atem haben und diesen gut einteilen …

Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl
Symposium "Kultur im Dorf – Dorfkultur" © Verena Nagl

Nochmal auf der Bühne ziehen abschließend Alexander Erler, Helene Schnitzer, Melanie Wiener (stellvertretende Leiterin der Abteilung Kultur des Landes Tirol) und Bertram Meusburger Resümee und beantworten, was sie von diesem zweiten Symposium zum Thema „Kultur vor Ort“ mitnehmen. Auf Postkarten an die Wand pinnen alle Besuchenden ihr persönliches Fazit sowie Feststellungen, Ideen und Aufrufe.

Collage © Kunigunde Weissenegger

Die Samen sind gesät, tragen wir sie hinaus …

Das Symposium war ausgebucht, zum Glück hat Radio freirad alles aufgezeichnet, die Mitschnitte sind hier nachzuhören. Alle Informationen zum Programm sowie die Kurzbiografien der Vortragenden sind hier zusammengestellt. Für das komplex Kulturmagazin hat Julia Zachenhofer einen ausführlichen Bericht geschrieben, nachzulesen hier.

Adieu, wir kommen wieder!

Wattens © Kunigunde Weissenegger

Kunigunde Weissenegger
Über die Autorin
Kunigunde Weissenegger ist Übersetzerin, Schreiberin, Journalistin und Kommunikationsstrategin sowie Mitbegründerin der Kommunikationsagentur franzLAB und Chefredakteurin des mehrsprachigen, zeitgenössischen Online-Magazins für Kultur und Gesellschaft franzmagazine.com. Der feine rote Faden, der sich durch ihr Leben zieht, ist die unstillbare Neugierde auf Neues und Ungewohntes, gepaart mit Entdeckungsfreude: Geschichten von Menschen, ihren Umständen, Leidenschaften, Erlebnissen und Vorhaben zu erzählen ist Beruf und Berufung. In der Bewegung liegt die Kraft.
franzmagazine.com

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